Sömmerda/ Thür.

Auszüge aus einer Chronik, die es noch nicht gibt

8.  Sömmerda in der Zeit des Faschismus

Dieser Zeitabschnitt wird treffend in der Festschrift "50 Jahre Rheinmetall Düsseldorf" charakterisiert, wo festgestellt wurde: "Der Nationalsozialismus entwickelt ein staatliches Arbeitsbeschaffungsprogramm von gewaltigem Ausmaß. Eines der vornehmsten Ziele dieses Programms war die Wiederwehrhaftmachung des deutschen Volkes, seiner Größe und Tradition entsprechend. "Rheinmetall" war ein Betrieb, der zur Erfüllung der für das deutsche Volk so überaus lebenswichtigen Aufgabe in erster Linie mit herangezogen wurde." "Rheinmetall" Sömmerda stieg in zunehmendem Maße in das profitable Rüstungsgeschäft ein. Das Werk Sömmerda gehörte zu jenen Rüstungsbetrieben, in denen binnen kurzer Zeit moderne, hochwirksame Munition entwickelt, getestet und in einer technologischen Serie produziert wurde, um dann den gesamten Komplex an einen modernen Munitionsbetrieb zur Massenproduktion weiterzugeben. Entwickelt und getestet wurden Zünder aller Varianten, Aufschlagzünder, Bodenzünder, Doppelzünder, Zeitzünder, Bombenzünder, 2cm- und 13mm-Munition, Zünderstellmaschinen, Kreiselgeräte, Maschinengewehr MG 34, Sturmgewehr.

Während die Konzernleitung von "Rheinmetall" zielstrebig den profitträchtigen Bereich der Rüstungsproduktion weiterentwickelte, gab es im Werk Sömmerda eine Gruppe von Konstrukteuren und Technologen um den Chefkonstrukteur August Kottmann, die neue Büromaschinen auf einem hohen technischen Niveau entwickelte und in die Produktion überleitete. Die Palette der Schreibmaschinen wurde um eine Kleinschreibmaschine erweitert. 1933 war die Entwicklung einer Zweispeziesrechenmaschine (Addiermaschine) beendet, und sie wurde in die Produktion übergeleitet.
1932 stellte August Kottmann der Konzernleitung ein Weltspitzenerzeugnis, die "Rheinmetall"-Fakturiermaschine vor, eine Büromaschine, die nach Eingabe von Stückzahl und Preis vollautomatisch die Rechenarbeitsgänge vollzog, einschließlich Rabattrechnung und anderen Rechnungspositionen. Es gab hierzu nur ein Konkurrenzmodell. "Rheinmetall" Sömmerda verfügte zu Beginn der 30er Jahre über ein Büromaschinenprogramm, mit dessen Hilfe eine breite Skala von Büroarbeiten erfolgreich rationalisiert werden konnte.

Als die Büromaschinenproduktion durch die Rüstungsproduktion immer mehr eingeengt wurde, entwickelte August Kottmann Sortier- und Prüfmaschinen für Zünderteile. Er festigte dadurch seine persönliche Stellung im Konzern, konnte weiter an der Neuentwicklung von Büromaschinen arbeiten und damit manche Kollegen vor dem Zugriff der Gestapo bzw. der Einberufung bewahren.

Mit dem "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" (Ermächtigungsgesetz) begann auf kommunalem Gebiet der Prozeß der Durchsetzung des Führerprinzipes. Die Länderparlamente wurden aufgelöst, an ihre Stelle trat der Reichsstatthalter; es begann die Beseitigung des parlamentarischen Systems der Kreisinstanzen, alle Verfügungsgewalt wurde auf den Landrat übertragen und für die Gemeinden wurde das Amt des Beauftragten der NSDAP eingeführt.

An die Stelle der Gemeindevertretung traten nunmehr Ehrenbeamte der Gemeinde als eigenverantwortliche Berater des Bürgermeisters. Ihre Auslese erfolgte durch den Beauftragten der NSDAP, der auch bei der Berufung der Bürgermeister und Beigeordneten maßgeblich mitwirkte.

Die Nationalsozialisten wollten eine Festigung ihrer Massenbasis erreichen. Ziel ihrer Bemühungen waren in erster Linie die Großbetriebe. Im März und April 1934 fanden die ersten Vertrauensrätewahlen auf der Grundlage des faschistischen Arbeitsgesetzes statt. Von den über 4000 Arbeitern und Angestellten von "Rheinmetall" beteiligten sich hieran nur 1800. Das Ergebnis der Vertrauensrätewahlen entsprach landesweit in keinem Punkte den Erwartungen der Nazis. Sie wagten nicht, die Ergebnisse zu veröffentlichen.
Im April 1935 fanden erneut Vertrauensrätewahlen statt. Auch sie führten in einer Reihe von Thüringer Großbetrieben zu einer Niederlage der Nazis. Im "Rheinmetallwerk" blieben 21 Prozent der Beschäftigten der Wahl überhaupt fern. Ab 1936 wurden keine Vertrauensrätewahlen mehr durchgeführt.
Im Ergebnis eines brutalen und rücksichtslosen Terrors und einer geschickt durchgeführten Propaganda gelang es den Nazis, daß ein großer Teil der Werktätigen keine konsequent ablehnende Haltung mehr gegen den Nationalsozialismus bezog und ein nicht unbeträchtlicher Teil den Nazis "auf den Leim ging".

Mitte 1935 zählte Sömmerda 10343 Einwohner, davon 5710 männlich und 4633 weiblich.
Die Entwicklung von Stadt und Industrie erforderte gebieterisch den Wohnungsbau und den Ausbau der Infrastruktur.
In der Zeit bis zum Ende des 2. Weltkrieges nahm die Bautätigkeit in Sömmerda ihren bis dahin höchsten Aufschwung. Von 1933 bis 1939 wurden 972 Wohnungen gebaut, dazu kamen noch 700 während des Krieges.
Außer der Bebauung von Lücken im Gelände zwischen Altstadt und Bahnlinie entstanden
Am 15. November 1935 konnte das neugebaute Feuerwehrgerätehaus am Stadtring seiner Bestimmung übergeben werden. Es war nach den neuesten Erkenntnissen des Feuerlöschwesens errichtet worden.

Ein weiterer Ausbau des Sömmerdaer Bahnhofes war 1936 erforderlich. Auf dem oberen Bahnsteig wurde der Zwischenbahnsteig in einen Inselbahnsteig umgewandelt, der durch eine, heute noch vorhandene, Bahnsteigüberdachung geschützt ist. Am südlichen Überführungsbauwerk wurde ein Lastenaufzug installiert, der bis in die siebziger Jahre genutzt wurde. Das Empfangsgebäude wurde um eine geräumige Schalterhalle erweitert und die Bahnhofsgaststätte in nördlicher Richtung angebaut.
Im gleichen Jahr entstand auf dem unteren Bahnhof ein Neubau mit Dienst- und Warteräumen, angelegt wurde ein Inselbahnsteig. Die Gleisanlagen im Bereich des Güterbahnhofes wurden, zur besseren Bedienung des Werkes "Rheinmetall" erweitert. Zu dieser Zeit zählte man täglich 6000 Pendler, die die Reichsbahn benutzten.


1937 wurde der neue Schießstand der Schützenkompanie an der Weißenseer Straße, gegenüber der Firma "Selkado", eingeweiht. Er wurde nach 1945 abgerissen.

Am 21. Mai 1937 wurde das neue Wasserwerk in Betrieb genommen, das sowohl in technischer wie in hygienischer Beziehung allen Anforderungen entsprach und das darauf ausgerichtet wurde, durch Aufstellung von zwei weiteren Filtern und Verdoppelung der Rohrwasserpumpanlage, erhöhten Anforderungen gerecht zu werden. Im Jahre 1936 wurde eine neue Kläranlage für die Anforderungen einer Einwohnerzahl von 25 000 gebaut. Mit der Übernahme des gesamten Leitungsnetzes in städtische Regie wurden das Elektrizitätswerk von Gleichstrom auf Drehstrom umgebaut und 5 Transformatorenstationen errichtet.

1933 wurde an das Krankenhaus ein Operationsraum angebaut, und 1937/38 wurde der alte Bau nach der Südseite hin durchbrochen und ihm ein architektonisch stilvoller und in seiner Inneneinrichtung zum damaligen Zeitpunkt auf das modernste und zweckmäßigste eingerichteter mehrstöckiger Neubau angegliedert.
Im Werk Sömmerda von "Rheinmetall" wurden neue Produktionsstätten gebaut: 1935 die Härterei, 1937 der Gerätebau (Herstellung elektrischer Zünder, heute Berufsschule), 1938 der Schreibmaschinen-Neubau, 1939 der Versand, unter dem sich Luftschutzräume und ein Operationssaal befanden, 1939/40 die Rechenmaschine I und II.
Rechenmaschine I

Anfang 1936 wurde die "A. Borsig Maschinenbau AG" mit der "Rheinischen Metallwaren- und Maschinenfabrik AG" zur "Rheinmetall-Borsig AG" verschmolzen, wodurch der Konzern mit 50 000 Beschäftigten in die Reihe der größten deutschen Firmen aufrückte.
1938 wurde die "Rheinmetall-Borsig AG" als bedeutender Teil in die "Reichswerke Hermann Göring" eingegliedert und gehörte dort zum Maschinen- und Waffenblock: "Reichswerke AG für Waffen- und Maschinenbau" mit 94 Unternehmen. Die "Reichswerke" waren für die Heeresrüstung der entscheidende Konzern, für die sonstige Rüstung entscheidender Zulieferer von Rohstoffen und Material.
Ein nennenswerter Teil der Rüstungsproduktion wurde bis 1941 exportiert.
"Rheinmetall"-Spezialisten waren am Aufbau von Munitionsfabriken (Flakmunition) in der Sowjetunion beteiligt. Das Werk Sömmerda lieferte bis unmittelbar vor dem Überfall Munition an die Sowjetunion.

Mit dem Beginn des 2. Weltkrieges wurde das gesamte Leben mehr und mehr auf den totalen Krieg umgestellt.

Im Zuge der totalen Mobilmachung wurden in zunehmenden Maße Menschen aus nicht kriegswichtigen Betrieben und Institutionen in die Rüstungsindustrie zwangsverpflichtet.
Zu Beginn des 2. Weltkrieges war das Produktionsprogramm der "Rheinmetall-Borsig AG" Werk Sömmerda durch drei Haupterzeugnislinien geprägt:
Die Firma "Selkado AG" expandierte in der Zeit der Wiederaufrüstung und beschäftigte während des 2. Weltkrieges ca. 2000 Arbeiter und Angestellte.
Während des 2. Weltkrieges mußte in der Ziegelei "Martini" die Produktion wegen Arbeitskräftemangels eingestellt werden.

Mitte 1939 hatte die Stadt Sömmerda 11765 Einwohner, davon 6085 männlich und 5680 weiblich. In den beiden Rüstungsbetrieben "Rheinmetall" und "Selkado" arbeiteten 1939 ca. 15000 Menschen.
Während des Krieges wurde die Fertigung der Büromaschinen zunächst gedrosselt und dann 1944 ganz eingestellt.

Nach einer Statistik vom 27. Februar 1945 arbeiteten in "Rheinmetall-Borsig", Werk Sömmerda, 13099 Personen, 6617 davon waren ausländische Arbeitskräfte - Zwangsarbeiter-, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge.

Untergebracht waren die ausländischen Arbeitskräfte in 15 Lagern unterschiedlicher Größe, Struktur, Ausstattung und mit differenzierter Verpflegung. Die schlechteste Unterkunft und Verpflegung erhielten die sowjetischen Kriegsgefangenen und die KZ-Häftlinge. Der Status der nach Deutschland deportierten ausländischen Arbeitskräfte glich dem von Sklaven. Sie waren Menschen ohne Rechte, denen nur als Arbeitskräfte für die faschistische Kriegswirtschaft eine Daseinsberechtigung zuerkannt wurde.

Jede Form menschlicher Kontakte zwischen ausländischen und deutschen Arbeitern, die über den Arbeitsprozeß hinausging, war mit strengen Strafen bedroht. Die Zeit, da deutsche und ausländische zwangsverpflichtete und zwangsverschleppte Menschen für den faschistischen Raubkrieg arbeiten mußten, machte aber auch deutlich, daß es den Faschisten, trotz chauvinistischer Propaganda und brutalen Terrors nicht gelungen war, den Gedanken eines echten Humanismus generell zu verschütten; davon zeugen viele Einzelbeispiele der Solidarität.

Auf dem Friedhof in Sömmerda sind insgesamt 161 ausländische Bürger, die während des 2. Weltkrieges starben, bestattet worden. 123 Russen, 1 Lette, 8 Polen, 7 Franzosen, 2 Kroaten, 3 Jüdinnen, 3 Belgier, 4 Italiener und 10 unbekannter Nationalität. Auf Weisung des Reichsführers-SS mußten alle Bürger jüdischer Konfession grundsätzlich außerhalb des Friedhofes beerdigt werden. Das Ehrenmal auf dem Friedhof, bestehend aus einem steinernen Monument und 12 Grabsteinen, soll Erinnerung und Mahnung sein.

1944 wurde der Regierungsbezirk Erfurt an das Land Thüringen angegliedert und das gesamte Gebiet zum Gau Thüringen der NSDAP gemacht.

Nach der Schlacht bei Stalingrad und insbesondere nach dem mißglückten Attentat auf Hitler bereiteten sich die Leitungen der Sömmerdaer Rüstungsbetriebe auf die neue Lage vor. Der Krieg war verloren. Er kehrte dorthin zurück, wo er seinen Ausgang genommen hatte.

Der Feindalarm, ein drei Minuten langer Sirenenton, sollte den Einwohnern von Sömmerda in den Morgenstunden des 11. April 1945 anzeigen, daß die amerikanische Armee anrückte und nun die letzten Reserven an kampffähigen Männern, der Volkssturm, diese bestausgerüsteten Panzertruppen aufhalten sollte. Anwesende SS-Verbände und örtliche Volkssturmführer hatten sich abgesetzt. Die meisten Volkssturmleute taten das einzig Richtige und gingen in der Nacht vom 10. zum 11. April 1945 nach Hause. Ein telefonischer Anruf der Amerikaner im "Gasthaus zur Börse" forderte die Kapitulation der Stadt. Pfarrer Breithaupt ergriff die Initiative und ging, nach Vorsprache im Rathaus, mit einer Dolmetscherin und einer weißen Fahne den amerikanischen Truppen in Richtung Tunzenhausen entgegen. Sömmerdaer Patrioten konnten noch verhindern, daß die Unstrutbrücke nach Weißensee gesprengt wurde.
Am Ende des von den Nazis begonnenen Raubkrieges standen in Sömmerda wieder tausende von Arbeitern und Angestellten auf der Straße ohne Arbeit und sie stellten die Frage: Wie weiter? Mitte 1944 zählte Sömmerda 14414 Einwohner. In den beiden Rüstungsbetrieben arbeiteten 16700 Menschen, davon ca. 6000 Ausländer und Kriegsgefangene. Ca. 4000 Beschäftigte aus beiden Betrieben waren Soldat.


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